Wie sichtbar ist die Krise im Alltag?
Viele Geschäfte wurden geschlossen, Ein-Euro-Märkte schießen aus dem Boden. Die Obdachlosigkeit hat sichtbar zugenommen. Normale Hausfrauen, Väter, ja ganze Familien sitzen auf der Straße und
halten bettelnd einen McDonalds-Pappbecher vor sich.
Spürten Sie die Scham der Menschen?
Natürlich. Die meisten gucken nach unten.
Haben Sie auch diese Leute fotografiert?
Das wären klischeehafte Bilder, wie man sie schon kennt. Wer sich Zeit nimmt und genau hinsieht, erkennt im Stadtbild viele Spuren der Krise: eine zerbrochene Scheibe in einem Buchladen,
heruntergelassene Ladengitter in leeren Luxus-Einkaufspassagen. Eine Frau schlägt wütend auf einen Mann ein, der sie bestohlen hat. Die starke Präsenz der Polizei in der Stadt, Security-Dienste
vor Banken, abgebrochene Hütten neben Luxusyachten. Manchmal reicht schon ein Detail, wie die Stellung der Füße einer alten Frau auf einer Bank, die Schuhe, die sie trägt. Der Betrachter ergänzt
das Bild im Kopf.
Sie arbeiteten oft mit Bildpaaren. Warum?
Um die Krisenbilder von heute in einen historischen Zusammenhang einzubinden. Links sieht man eine Skulptur oder ein plastisches Fragment aus der Vergangenheit und daneben ein aktuelles Motiv.
Für diese Serie wählte ich Skulpturen mit beschädigten Gesichtern, die aber sehr ausdrucksstark sind. Sie blicken auf die heutige Zeit, mal mit dem Ausdruck des Befremdens, des Erstaunens oder
auch des Mitleids. Damit will ich zeigen: Die Bilder von heute sind nicht geschichtslos. Was sie zeigen, ist schon Geschichte. Was gerade abläuft, dessen werden wir uns oft erst Jahre später
bewusst. Durch das Hinzufügen eines historischen Motivs werden die Bilder komplexer, es sind nicht nur Momentaufnahmen.
Die Athena ist Ihr Leitmotiv. Warum?
Sie gilt als Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes, sie ist Schutzgöttin der Stadt Athen. Auf meinem Foto sind ihre Augen zugesprüht, sie ist erblindet..
Sind Sie bei Ihren Aufenthalten auch einem Populismus begegnet, wie es ihn ja hierzulande immer stärker gegen Griechenland gibt?
Nein, ich habe keine Deutschenfeindlichkeit erlebt. Im Gegenteil. Ich erlebte Großzügigkeit, Gastfreundschaft, dort wo ich war, in Familien, Schulen, Kitas oder im Goethe-Institut. Die
Feindlichkeit richtet sich eher gegen bestimmte Politiker.
Aber letztlich sind die Griechen ja nicht ganz unschuldig an der Krise.
Sicher haben Klientelpolitik und Korruption zur Situation beigetragen, das wollen viele Menschen nicht mehr mitmachen. Aber die Hauptursachen liegen bei den Finanzmärkten. Da zeigt sich viel Wut,
insbesondere weil vor allem die kleinen Leute jetzt für Spekulation und Misswirtschaft zahlen müssen. Vor allem Jüngere fragen sich, ob sie standhalten oder ins Ausland gehen sollen. Aber
manchmal ist auch etwas Hoffnung zu spüren, sie stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Wie lässt sich diese Hoffnung in Ihren Fotos ablesen?
Zum Beispiel, dass sich die Leute ihr kleines privates Glück erhalten, Liebe, Freundschaft. Auf einem meiner Fotos sitzt ein Paar auf einer Bank. Es kam, wie es kommen sollte: Als sich beide
küssten, habe ich auf den Auslöser gedrückt.
Sie halten sich also beim Fotografieren eher bedeckt?
Ich bin immer sehr lange an Orten und halte mich im Hintergrund. Ich beobachte, möchte vor allem den Alltag mitkriegen, nicht nur die spektakulären Situationen. Ich möchte wissen, wie die
Menschen miteinander umgehen und was sie bewegt.
Wo haben Sie fotografiert?
Ich war in Athen und Umgebung. Nicht nur am Syntagma-Platz, wo oft Demonstrationen vor dem Parlament stattfinden, sondern auch in der Metro, am Strand, an verlassenen Orten, an Orten, wo sich
noch immer Reichtum zeigt, wie in Piräus mit seinen Luxusschiffen. Es gibt vereinzelt auch noch Luxusläden. Arm und Reich treffen oft hart aufeinander.
Rücken die Leute jetzt enger zusammen?
Ja, das Gefühl hatte ich. Ich war auf Tauschmärkten, die Eltern in einer Schule organisiert hatten. Kinderkleidung wurde dort umsonst abgegeben. Obst und Gemüse wird häufiger selbst angebaut, zum
Beispiel in den Gärten der Eltern. Es gibt eine kleine Bewegung von jungen Leuten, die aufs Land gehen und Selbstversorger werden.
Wenden sich die Leute von der Politik ab?
Das Vertrauen in die eigenen Politiker ist geschwunden, aber das Interesse an Politik, daran, was mit ihrem Land geschieht, ist verständlicherweise groß. Man sieht die Menschen vor den Kiosken
stehen und die Zeitungen studieren. Trotz allem wollen viele Griechen in der EU bleiben, gerade die Jugend, die aufgeschlossen und gebildet ist. Viele hoffen, dass sich die Situation etwas
stabilisiert und dass ihr Land ein bisschen mehr Zeit bekommt, um die Probleme zu lösen. Doch die Spannungen nehmen zu. Die Selbstmordrate ist gestiegen. Viele wissen nicht, wie es weitergehen
soll. Andere konnten sich die Lebenslust bewahren. Die Welt ist eben nicht schwarz-weiß.
Interview: Heidi Jäger
Ausstellung: „Wut – Enttäuschung – Hoffnung: Bilder aus Athen“ bis 26. August im Kunsthaus sans titre,